(ae) Nach einem Krankheitstag komme ich am nächsten Morgen zurück ins Klassenzimmer. Meine gestrige Stellvertretung ist noch neu an der Schule und so ist es für mich schwer einzuschätzen, ob alles nach Plan funktioniert hat. Man selbst kennt ja seine Schüler(innen), und sie kennen umgekehrt uns als ihre Lehrpersonen; sie wissen genau, was wir von ihnen wollen – und auch, was nicht. Im Falle eines spontanen Ersatzes ist das manchmal anders, sodass man dann improvisieren muss, um den Anschluss zu finden.
Als ich zu meinem Schreibtisch gehe, finde ich diesen so aufgeräumt, als wäre niemand da gewesen. In der Mitte liegt ein A4-Blatt mit ordentlicher Schrift. Ich nehme es in die Hand und muss lachen. Noch nie habe ich so akkurate Notizen von einer Unterrichtsstunde gesehen. Da steht die genaue Sitzordnung, es ist verzeichnet, wer zu welcher Uhrzeit sein Dossier mit welchem Bearbeitungsstand abgegeben hat, und was hinsichtlich des Verhaltens einzelner Kinder auffällig war. Ich bin begeistert und habe zugleich ein schlechtes Gewissen, weil ich merke, dass ich von dieser vorbildlichen Dokumentation definitiv für die Zukunft noch etwas übernehmen kann.
Stephan Widmer, der Vertretungslehrer, der damals so hilfsbereit für mich eingesprungen ist, ist inzwischen nicht mehr ganz so neu an der Oberstufe Zurzach. Als Quereinsteiger fiel sein beruflicher Start dabei mit seinem Studiumsbeginn zusammen. So war für den ausgebildeten Betriebswirtschaftler sein erster Kontakt mit der Schule gleich ein Sprung ins kalte Wasser.
Im Gespräch erzählt er alles Wissenswerte rund um seinen Quereinstieg.
AE: «Du kommst beruflich ursprünglich aus einer ganz anderen Ecke. Kannst du kurz über deinen Werdegang erzählen?»
SW: «Ich habe nach der Bezirksschule eine kaufmännische Ausbildung mit Berufsmatur absolviert und danach mehrere Jahre im Marketing eines Grosshandels/Versandhandels gearbeitet. Gleichzeitig habe ich noch die Erwachsenenmatur nachgeholt und anschliessend an der HSG Betriebswirtschaft studiert. Danach war ich Produktmanager und Marketingverantwortlicher eines Grosshändlers im Gartenbaubereich. Während meiner Ausbildungszeit sammelte ich auch verschiedene Erfahrungen im Logistikbereich.“
AE: «Wie bist du hier an der Oberstufe Zurzach gelandet?»
SW: «Ich hatte eine Bewerbung auf ein Stellenportal geschaltet und wurde dann von Markus (Eckhardt) für ein Teamteaching angefragt. Das war ein grosser Bruch nach der Arbeit als Marketingverantwortlicher.»
AE: «Was war der Anlass für deinen beruflichen Wechsel?»
SW: «Ich habe nach Abwechslung gesucht und wollte meiner Arbeit einen Sinn verleihen.
Die Arbeit damals war einfach nur ein Job für mich, zwar gut bezahlt, aber ich war langfristig nicht glücklich und habe dafür nie eine Leidenschaft entwickelt. Deswegen habe ich mir auch eine Auszeit genommen und ein halbes Jahr Yoga gemacht. Das war eine Zeit zum Reflektieren, was mir eigentlich wirklich wichtig ist, aber es hat zwei weitere Jahre gebraucht, bis mir klar wurde, was genau ich machen will. Ich wollte etwas arbeiten, das sinnvoll ist, das etwas mit Wissensvermittlung zu tun hat, und wo ich meine Stärken einbringen kann. Mit der Zeit hat sich dann herauskristallisiert, dass es die Arbeit als Lehrer sein soll.»
AE: «Wie genau sah denn deine Yogaauszeit aus?»
SW: «Ich habe es damals neu angefangen. Dreimal habe ich eine Yogasession mitgemacht, und das hat total gutgetan. Dann bin ich auf Reise gegangen. Eigentlich wollte ich einen Yogaretreat machen, um fit zu sein. Erst sollten es zwei Wochen werden, doch ich habe gemerkt, dass das nicht reicht, und so wurde es dann ein halbes Jahr.»
AE: «Was hat dich am Yoga fasziniert?»
SW: «Einerseits das Geistige, das Herausfinden, was ich will und wer ich bin, und auf der anderen Seite das Praktische und das Philosophische. Die Fragen und Gedanken waren bei mir alle vorher schon da, aber jetzt gab es auch die Zeit dafür, drüber nachzudenken.»
AE: «Zurück zur Arbeit als Lehrer. Hattest du vor deinem ersten Studium nie die Idee, Lehrer zu werden?»
SW: «Als ich aus der Bezirksschule gekommen bin, nicht. Wir waren eine relativ schlimme Klasse und mir haben die Lehrer eher leidgetan. Ich finde aber, dass die Schule so ein wichtiger Ort ist, wo man Jugendliche begleitet und wo sie Erfahrungen sammeln können. Ich war auch schon Pfadileiter und hatte so auch schon Kontakt zur Arbeit mit Jugendlichen.»
AE: «War der Umstieg die richtige Entscheidung für dich?»
SW: «Meistens ja. (Er lacht.) Es gibt schon Momente, wo man sich selbst hinterfragt. Es ist so viel mehr, als ich erwartet hatte.»
AE: «Inwiefern? Gab es Überraschungen für dich?»
SW: «Die Wissensvermittlung nimmt eine geringere Rolle ein, als ich dies zuerst erwartet habe. Man hat die ganze gesellschaftliche Bandbreite vor sich. Manche Kinder haben Schwierigkeiten zu Hause, die sie belasten, was auch für die Schule eine Rolle spielt. Die Leistungsunterschiede sind auch relativ gross und ich lerne noch immer, wie man dem gerecht wird und gut binnendifferenzieren kann. Den jeweiligen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler angemessen und individuell zu begegnen, ist mir wichtig.»
AE: «Was waren deine Aufgaben, als du frisch angefangen hast?»
SW: «Ich war am Anfang im Teamteaching mit Onur Yilmaz in einer Realklasse. Aufs neue Schuljahr habe ich dann Klassenverantwortung übernommen, weil die Klasse, die ich schon kannte, geteilt wurde. Neben den fachlichen Aspekten, gibt es einen grossen Teil an zwischenmenschlichen und anderen Herausforderungen, Administration, Elternarbeit und schulische Anlässe.»
AE: «Gibt es etwas, was du als Quereinsteiger besonders schwierig findest?»
SW: «Für mich war es am Anfang schwer, mich einerseits im Studium zurechtzufinden, mit den verschiedenen fachlichen Inhalten und den Dozenten, und ich war manchmal überfordert zwischen der Tiefe und zugleich Breite des ganzen Wissens. Andererseits gab es gleichzeitig neue Themen in der Klasse, vor allem hinsichtlich Motivation und Miteinander.»
AE: «Gibt es bestimmte Fähigkeiten oder Erfahrungen aus deinem vorherigen Job, die sich für die Schule als besonders nützlich erwiesen haben?»
SW: «Rein fachlich eher nicht. Aber ich hatte im Laufe der Jahre ganz verschiedene Rollen und konnte sehen, wo die Fähigkeiten der einzelnen Lehrpersonen liegen, und merken, dass es überall was anderes braucht. In der Oberstufe wurden der Zusammenhalt und das Soziale wichtig, in der Erwachsenenmatur ging es eher um die eigene Persönlichkeit, im Studium um die didaktischen Kompetenzen. Das alles spielt bei mir zusammen.»
AE: „Von aussen wirkst du immer sehr organisiert. Ich erinnere mich an die Notizen nach deiner Vertretungsstunde. Liegt das an deiner früheren Arbeit? Oder ist das deine Persönlichkeit?»
SW: «Ich bin eigentlich ein kleiner Chaot, aber ich arbeite daran, strukturiert zu sein. Es ist eine grosse Arbeitslast und sehr viel Neues. Ausserdem möchte man nebenbei auch ein eigenes Leben haben. Das kostet viel Struktur, die man organisieren muss. Ich schaffe mit drei Kalendern … die muss ich dann nur zusammenbringen. Ich habe aber auch gelernt, manchmal nicht alles 100% wichtig zu nehmen.»
AE: «Fühlst du dich manchmal noch als Quereinsteiger?»
SW: «Es gibt vieles, was ich noch neu lerne. Es ist ein ständiges Reflektieren: Wo muss ich mich in meiner Einstellung ändern, wo habe ich Erwartungen, die vielleicht nicht Realität entsprechen.
Und natürlich erinnert das Studium mich auch daran, dass ich noch lerne. Vom Kollegium bekomme ich gute Tipps und wurde grossartig aufgenommen, sodass ich mich von dieser Seite gar nicht als Quereinsteiger fühle.»
AE: «Was würdest du anderen raten, die über einen Umstieg in den Lehrerberuf nachdenken?»
SW: «Man sollte sich gut überlegen, woher der Wunsch kommt, diesen Beruf auszuüben, und sich fragen, ob man die nötigen Kapazitäten wirklich hat, parallel zu studieren und zu arbeiten. Auch sollte man die sozialen Aspekte und Schwierigkeiten, die auf einen zukommen könnten, nicht unterschätzen. Während des Hauptstudiums bist du zu maximal 50% angestellt, was auch finanziell nicht immer ganz einfach ist. Im Moment arbeite ich etwas mehr, weil ich das erste Studienjahr auf zwei Jahre aufteilen konnte, danach aber muss ich wieder zurück ins Vollzeitstudium. Das hat aber auch Vorteile. So habe ich wieder mehr Zeit fürs Studium. Es war ein Sprung ins kalte Wasser, und jetzt ist Zeit für mich, etwas Ruhe reinzubringen.»
AE: «Würdest du dich nochmal für den Beruf als Lehrer entscheiden?»
SW: «Ja, auf jeden Fall. Da muss ich nicht überlegen. Ich habe eine gute Unterstützung durch die Schule. Susanne Schmid begleitet mich im Mentorat. Es ist ein sehr spannender und abwechslungsreicher Beruf mit vielen Facetten. Man bereitet sich vor und weiss dann am Ende vom Tag nicht, was rauskommt, und muss immer spontan reagieren. Das macht es so interessant.»
AE: «Vielen Dank, dass du dir die Zeit für das Gespräch genommen hast!»